Exillyrik: Stefan Haym – Ich aber ging über die Grenze

Ich aber ging über die Grenze

Meinen Vater sperrten sie ein,
Meines Bruders Hand nahmen sie,
Sagten: „Das sind Proletarierhände? Haha –
Und dein Bruder, der Hund will das Wort
Führen für sie?“
An meiner Mutter Schrei’n
Kehrten sie sich nicht.
Kehrten sie sich nicht.

Ich aber ging über die Grenze.
Über die Berge, da noch der Schnee lag,
auf den die Sonne brannte durch die dünne Luft.
Und der Schnee drang ein in meine Schuhe.
Nichts nahm ich mit mir
Als meinen Haß.

Den pflege ich nun,
Täglich begieße ich ihn
Mit kleinen Zeitungsnotizen
Von kleinen Morden,
Nebensächlichen Mißhandlungen
Und harmlosen Quälereien.

So bin ich nun einmal.
Und ich vergesse nicht.
Und ich komme wieder
Über die Berge, ob Schnee liegt,
Oder das Grün des Frühlings die Höhen bedeckt,
Oder das Gelb des Sommers, oder das dunkle Grau
Des Herbstes, der den Winter erwartet.

Dann steh‘ ich im Lande, das sich befreien will,
Mit einer Stirn, die zu Eis geworden
In den Jahren, da ich wartete.

Dann sind meine Augen hart, meine Stirn zerfurcht,
Aber mein Wort ist noch da, die Kraft meiner Sprache
Und meine Hand, die des Revolvers
Eiserne Mündung zu führen versteht.

Über die Straßen geh ich der Heimatstadt,
Über die Felder, die mir verloren gingen,
Auf und ab, auf und ab.

Wir werden nicht martern.
Wir sind nicht Bestien in Menschengestalt;
Aber ohne Lächeln werden wir sein,
Ohne Versöhnung.

Dies und jenes hat man getötet in uns,
Das wird sich rächen -,
Ob wir wollen oder nicht.

Meinen Vater sperrten sie ein.
Meines Bruders Hände betasteten sie,
Wie der Metzger befühlt das Maul der schlachtreifen Kuh.
Und an meiner Mutter Schrei’n,
Meiner Mutter Schrei’n,
Kehrte sie sich nicht.

 

Hallo,

selten habe ich ein Gedicht gelesen wie dieses. Stefan Haym (auch Heym geschrieben, 1913-2001) packt in dieses Gedicht alle Verzweiflung, allen Mut, den er in sich trug. es verdeutlicht, wie das lyrische ich, welches mit Haym gleichzusetzen ist, einerseits an seiner Heimatstadt hängt, doch aus ihr vertrieben wird, wie ihm die Familie genommen wird und was dies mit ihm anstellt: Zwar reüssiert er, keine „Bestie in Menschengestalt“ zu sein, aber, so stellt er fest, ist er gebrochen, ohne Lächeln, ohne Versöhnung. Was dieses Massaker an seiner Familie, bzw. mit ihnen, den Überlebenden der Shoa machen wird, das ist nicht klar. Dass es aber sie verändern wird, ist klar.

Stefan Hayms Gedicht Ich aber ging über die Grenze ist ein Gedicht, das unter die Haut geht.

 

Auf bald,
Ihre/Eure Allics

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